Ich gehe die Treppen hinauf, halte mich am Handlauf fest. Hinter mir meine Großeltern. Unsere Wohnung ist im dritten Stock, es dauert etwas, bis ich mit meinen kurzen Beinen die Wohnungstüre erreiche. Ich bin fünf Jahre alt, werde im Sommer sechs und komme im Herbst in die erste Klasse Volksschule. Die Wohnungstüre steht einen Spalt offen. Wir werden bereits erwartet. Alles ist finster, beängstigend finster. Obwohl es mitten am Tag ist, sind alle Vorhänge in der Wohnung zugezogen. Ich gehe Richtung Wohnzimmer, sehe meine Mama am Wohnzimmertisch sitzen, ihre Ellbogen auf dem Tisch abgestützt, den Kopf in ihren Händen. Sie weint. Eine Person steht hinter ihr. Wer das ist. Ich weiß es nicht. Es irritiert mich, dass meine Mama weint. Wieso weint sie an ihrem Geburtstag? Sind wir nicht deshalb von Oberösterreich nach Innsbruck gekommen, um mit ihr zu feiern?
Dies ist die einzige Erinnerung, die ich an diesen Tag habe. Ich weiß nicht einmal, ob es wirklich so passiert ist! Für mich ist sie aber eine der wichtigsten Erinnerungen an meine Kindheit.
Erst Jahre später sollte ich erfahren, dass wir nicht wegen Mamas Geburtstag nach Innsbruck gekommen sind.
Du bist nicht da. Nicht an meinem ersten Schultag, nicht bei meiner Erstkommunion, nicht bei meinem Schulwechsel nach Oberösterreich. Du bist nicht da. Du feierst mit mir nicht meinen 10ten Geburtstag, ich kann dir mit 15 Jahren nicht meinen ersten Freund vorstellen. Du gibst mir keinen Rat, welche weitere Schule ich besuchen, oder ob ich nicht doch einen Beruf erlernen soll. Du besuchst mich nicht in der Schweiz, siehst nicht, wie sehr ich mich über meinen ersten Auslandsaufenthalt freue. Du bist nicht da. Auch nicht zu meinem 18ten Geburtstag. Dafür nur ein Brief von dir. Hast du gesehen, wie sehr mich deine Abwesenheit geplagt hat? Ein Vollrausch nach dem anderen. Jedes Wochenende Party Pur um nicht daran zu denken, dass du nicht da bist. Ein Fehltritt nach dem anderen. Egal. Hauptsache nicht daran denken, nicht fühlen. Nichts fühlen!
Du bist nicht da. Siehst du, wie ich mich mit eigener Kraft aus dem Schlamassel befreie? Hilfe suche. Hilfe annehme. Ich beginne mein Studium. Breche ab. Suche mir etwas anderes. Irgendwie verloren. Suchend. Du bist nicht da. Ich kann dich nicht fragen, was ich tun soll. Dass ich wenige Jahre später meinen Bachelorabschluss in den Händen halten werde, kann ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht vorstellen. Du bist nicht da, als ich losziehe nach Finnland, oder Amerika. Auch nicht, wenn ich wieder komme. Meine Freude über meine Aufnahme zum Masterstudium in Innsbruck kann ich mit dir nicht teilen. Und erst recht nicht die Vorfreude auf Südafrika. Ich kann dir nicht von meiner schicksalhaften Begegnung in Coffee Bay berichten. Kann keine meine Abenteuer mit dir teilen. Du bist nicht da, als ich die große Bühne betrete um mein Masterzeugnis entgegenzunehmen. Aber irgendwie spüre ich: du bist stolz auf mich.
Du bist nicht da. Norwegen verändert vieles. Ich meditiere. Ich schreibe. Ich fange an, zu verstehen. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass ich auch zu Hause glücklich werden kann. Ich muss nicht mehr suchen. Du siehst nicht, dass ich mir ein Nest baue, sesshaft werde. Arbeite. Lebe.
Oder vielleicht siehst du es doch? Ich weiß es nicht!
Du bist nicht da, als ich die Schwangerschaft verkünde. Kannst deine Enkelin nicht in die Arme nehmen. Und du wirst mich nicht zum Altar begleiten…
Als ich vor gut 25 Jahren an einem frühen Jännertag mit meinen Großeltern von Oberösterreich nach Innsbruck gefahren bin, haben wir das nicht getan um meine Mama zum Geburtstag zu überraschen.
Mein Papa war von uns gegangen.
Nach all den Jahren habe ich irgendwann angefangen zu verstehen. Und zu vergeben.
Aber ich werde nie vergessen!
Happy Birthday Papa! Wie jedes Jahr, am 14. Februar!